Das menschliche Gehirn ist ein äußerst aktives Organ, das eine konstante Energiezufuhr benötigt. Lange Zeit galt Zucker als seine einzige Energiequelle. Doch eine kürzlich gemachte Beobachtung widerspricht dieser etablierten Sichtweise: Neuronen besitzen die überraschende Fähigkeit, eigene Fettreserven zu produzieren und zu nutzen.
Diese Entdeckung verändert unser Verständnis des Gehirnstoffwechsels grundlegend. Bisher ging die wissenschaftliche Gemeinschaft davon aus, dass Nervenzellen ausschließlich auf Glukose angewiesen sind, um zu funktionieren. Die Arbeit eines internationalen Forschungsteams zeigt jedoch, dass diese Zellen auch Lipide verbrennen können. Noch besser: Wenn ihnen Ressourcen fehlen, sind sie in der Lage, selbst welche herzustellen, indem sie interne Bestandteile recyceln – ein bisher unerwarteter Mechanismus.
Dieser Prozess der Lipidproduktion beruht auf der Wirkung eines spezifischen Proteins namens DDHD2. Es fungiert als ein wesentlicher Regulator, der es den Neuronen ermöglicht, einen Strom gesättigter Fette zu erzeugen. Diese Lipide dienen anschließend als Treibstoff, um die zellulären Aktivitäten anzutreiben und eine effektive Kommunikation zwischen den Nervenzellen zu gewährleisten. Ohne dieses funktionierende Protein ist die gesamte Energieversorgungskette beeinträchtigt.
Die Bedeutung von DDHD2 wird durch eine seltene neurologische Erkrankung verdeutlicht, die hereditäre spastische Paraplegie Typ 54. Bei betroffenen Personen ist dieses Protein defekt. Die Neuronen verlieren dann ihre Fähigkeit, die notwendigen Fette zu synthetisieren. Dieser Energiemangel äußert sich in einer fortschreitenden Schwächung der Zellen und frühen Schwierigkeiten, insbesondere bei der Koordination von Bewegungen und kognitiven Funktionen. Der Zusammenhang zwischen dieser Art von Fehlregulation und neurologischen Erkrankungen wird am Ende des Artikels erläutert.
Angesichts dieser Fehlfunktion testeten die Forscher einen einfachen Ansatz: Sie versorgten die Neuronen direkt mit spezifischen Fettsäurepräparaten. Im Labor ermöglichte diese Supplementierung den geschädigten Zellen, ihren Energiepegel innerhalb von nur achtundvierzig Stunden wiederherzustellen. Die schwer beeinträchtigten neuronalen Funktionen zeigten deutliche Anzeichen einer Verbesserung und eröffneten damit einen konkreten therapeutischen Ansatz.
Merja Joensuu, die Urheberin dieser Arbeit, gibt an, dass dieser lipidische Stoffwechselweg für gesunde Neuronen grundlegend ist. Ihr Team plant nun, die Sicherheit und Wirksamkeit dieser auf Fettsäuren basierenden Behandlungen in präklinischen Modellen zu bewerten. Das Ziel ist, zu überprüfen, ob diese Strategie auf den Menschen übertragen werden und anderen bisher unbehandelten Hirnstörungen zugutekommen könnte.
Giuseppe Balistreri, ein Mitarbeiter der Studie, erwähnt den Einsatz nicht-invasiver Bildgebungstechnologien, um die Entwicklung dieser potenziellen Therapie zu beschleunigen. Diese in
Nature Metabolism veröffentlichten Fortschritte begnügen sich nicht damit, die Biologielehrbücher zu überarbeiten. Sie bieten die Hoffnung, neue Methoden zum Schutz und zur Wiederherstellung von Gehirnfunktionen zu entwickeln, die möglicherweise den Alltag vieler Patienten verändern können.
Lipide, ein unbekannter Treibstoff für Zellen
Lipide, gemeinhin als Fette bezeichnet, spielen im Organismus vielfältige Rollen. Über ihre Funktion als Energiespeicher hinaus sind sie wesentliche Bestandteile von Zellmembranen. Im Gehirn sind diese Membranen besonders reich an Lipiden, was die Fluidität und die Kommunikation zwischen den Neuronen beeinflusst. Bestimmte spezifische Fettsäuren sind daher für die gute Entwicklung und Funktion des Nervensystems unerlässlich.
Der Stoffwechsel der Lipide ist ein fein regulierter Prozess. Zellen können sie entweder über die Ernährung aufnehmen oder sie selbst aus anderen Molekülen synthetisieren. Diese interne Produktion, oder Lipogenese, erfordert einen erheblichen Energieaufwand. Sie wird oft aktiviert, wenn die externen Ressourcen begrenzt sind, wodurch die Zelle ihre lebenswichtigen Aktivitäten aufrechterhalten kann.
Im neuronalen Kontext ist die Nutzung von Lipiden als direkte Energiequelle ein relativ neues Konzept. Traditionell dachte man, dass Neuronen im Gegensatz zu Muskeln oder der Leber Fette nicht effizient oxidieren können. Diese Entdeckung zeigt, dass sie sehr wohl die dafür notwendigen Enzyme besitzen und erweitert so die Palette der Energiesubstrate des Gehirns.
Diese Fähigkeit, Lipide zu nutzen, könnte eine Anpassung sein, um mit Stresssituationen oder Glukosemangel umzugehen. Zu verstehen, wie Neuronen diese doppelte Versorgung mit Zucker und Fett handhaben, ist daher ein Schlüssel, um die Widerstandsfähigkeit des Gehirns gegenüber Belastungen oder Krankheiten zu begreifen.