Jahre nach der letzten eingenommenen Kapsel bewahren die Bakterien in unserem Darm die Erinnerung an die vergangene Behandlung â weit ĂŒber das hinaus, was Wissenschaftler erwartet hatten.
Diese Entdeckung, die aus einer umfangreichen estnischen Studie hervorgeht, zeigt, dass fast 90 % der analysierten Medikamente die Zusammensetzung des Darmmikrobioms nachhaltig verĂ€ndern. Noch ĂŒberraschender: Einige Effekte, vergleichbar mit denen der stĂ€rksten Antibiotika, bleiben Jahre nach dem Absetzen der Behandlung bestehen. Diese Erkenntnis lĂ€dt dazu ein, unser VerhĂ€ltnis zu Medikamenten und zur Verdauungsgesundheit neu zu ĂŒberdenken.
Medikamente mit unerwarteten Auswirkungen
Benzodiazepine, die zur Beruhigung von AngstzustÀnden verschrieben werden, verhalten sich wie Breitbandantibiotika. Ihr Abdruck auf das Mikrobiom bleibt noch mehr als drei Jahre nach Beendigung der Behandlung nachweisbar und stört das bakterielle Gleichgewicht mit unerwarteter IntensitÀt. Diese Ergebnisse, veröffentlicht in der Zeitschrift
mSystems, unterstreichen, dass jede eingenommene Tablette eine Spur hinterlÀsst, manchmal tiefer als erwartet.
Die Studie hat auch frappierende Unterschiede zwischen MolekĂŒlen derselben Familie aufgezeigt. Zum Beispiel beeinflussen Alprazolam und Diazepam, zwei hĂ€ufig verwendete Anxiolytika, das Mikrobiom nicht auf die gleiche Weise. Ersteres verursacht umfangreichere Störungen, was zeigt, dass jedes Medikament eine einzigartige mikrobielle Signatur besitzt, fast wie ein bakterieller Personalausweis.
Die Forscher analysierten Daten von mehr als 2.500 Teilnehmern und kombinierten Stuhlproben und VerschreibungsverlĂ€ufe ĂŒber fĂŒnf Jahre. Dieser Ansatz zeigte, dass die AnhĂ€ufung von Behandlungen im Laufe der Zeit die VerĂ€nderungen des Mikrobioms verstĂ€rkt. Mit anderen Worten: Je mehr Medikamente einer Person aus derselben Klasse einnimmt, desto ausgeprĂ€gter und dauerhafter sind die beobachteten VerĂ€nderungen in ihrem Darm.
Eine Herausforderung fĂŒr die medizinische Forschung
Studien zum Mikrobiom konzentrieren sich in der Regel auf die zum Zeitpunkt der Analyse eingenommenen Medikamente. Doch diese estnische Forschung beweist, dass die medizinische Vorgeschichte eine ebenso wichtige Rolle spielt. Wenn vergangene Behandlungen ignoriert werden, riskiert man, die ZusammenhÀnge zwischen Mikrobiom und Krankheiten falsch zu interpretieren, was die Ergebnisse epidemiologischer Studien verfÀlscht.
Um ihre Beobachtungen zu validieren, untersuchten die Wissenschaftler Nachverfolgungsproben, die nach vier Jahren von 328 Teilnehmern entnommen wurden. Trotz der geringen StichprobengröĂe bestĂ€tigen die Ergebnisse, dass das Absetzen oder Beginnen bestimmter Medikamente, wie Protonenpumpenhemmer oder Antidepressiva, vorhersehbare VerĂ€nderungen in der bakteriellen Zusammensetzung bewirkt. Ein weiterer Beweis dafĂŒr, dass das Mikrobiom ein treues Spiegelbild unseres therapeutischen Weges ist.
Diese Studie wirft eine grundlegende Frage auf: Was, wenn die Medikamente, die wir heute einnehmen, die Gesundheit unseres Darms fĂŒr die kommenden Jahrzehnte prĂ€gen? Die Implikationen sind weitreichend, sowohl fĂŒr die personalisierte Medizin als auch fĂŒr das VerstĂ€ndnis chronischer Krankheiten. Die Forscher fordern nun, die Medikamentenhistorie systematisch in die Analysen des Mikrobioms einzubeziehen â eine Praxis, die die Art und Weise, wie wir die Verdauungsgesundheit angehen, verĂ€ndern könnte.